Vor bald zwei Jahren hat Herbert Kickl die FPÖ übernommen. Das nächste Ziel des blauen Parteichefs ist das Kanzleramt.

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Ein Café in der Wiener Innenstadt, es ist Nachmittag. Der FPÖ-Mann, der seinen Namen nicht in diesem Text lesen will, hat gute Laune. Ein weißer Spritzer steht vor ihm auf dem Tisch, er bestellt einen Toast. Die Stimmung in der Partei sei prächtig, versichert er. Kein Knatsch, keine Klage, kein Sticheln? Nein, sagt der blaue Stratege, es herrsche "absolute Stille".

Zufriedenheit und manchmal sogar Euphorie tönt in diesen Tagen aus vielen Winkeln der Partei, aber auch Genugtuung und Schadenfreude. Wie der Machtkampf in der SPÖ mit Kabalen und Hieben ausgetragen wird, kommentieren manche ebenso genüsslich wie die Korruptionsermittlungen, die die ÖVP immer wieder einholen. Noch lieber aber ergötzen sie sich am blauen Umfragehoch, das sich inzwischen klar verfestigt hat.

Einigen Freiheitlichen ist durchaus anzumerken, wie verblüfft sie sind über die aktuelle Lage der FPÖ. Vor bald vier Jahren sah das noch anders aus. Was nach Publikwerden des Ibiza-Videos im Mai 2019 folgte, war ein Totalabsturz auf mehreren Ebenen: Parteichef Heinz-Christian Strache musste zurücktreten, die Koalition zerbrach, die Partei musste auf Bundes- und Landesebene eine Wahlschlappe nach der anderen verkraften.

Seit dem Herbst 2022 hat sich das Blatt gewendet. Zuerst holten die Tiroler Freiheitlichen bei der Landtagswahl erstmals seit 2018 wieder ein Plus, im Jänner trumpften die Blauen in Niederösterreich auf. Parteichef Herbert Kickl sitzt fester im Sattel denn je. Und erstmals in ihrer Geschichte hat die FPÖ nach den Nationalratswahlen im Herbst 2024 – oder möglicherweise auch schon früher – echte Chancen auf das Kanzleramt.

Wie konnte es so weit kommen? Wie geht die Partei damit um? Vor allem: Würde der bei allen anderen Parteien höchst umstrittene Kickl für den blauen Griff an die Macht einen Schritt auf die Seite machen und jemand anderen ins Kanzleramt einziehen lassen?

Kickl will "Volkskanzler" werden

Lange hatte man ja nicht einmal in der FPÖ geglaubt, dass Kickl tatsächlich Ambitionen auf die Kanzlerschaft hat. Kritikerinnen und Kritiker hatten behauptet, dieser wolle sich mit seinem aus ihrer Sicht viel zu radikalen und unversöhnlichen Kurs lieber in der Opposition einzementieren. Die Sorge war groß, dass Kickl die FPÖ – mit seinen Extrempositionen hatte er die Partei seit der Pandemie nach ganz rechts gerückt – dauerhaft in eine Regierungsunfähigkeit manövriert. Dazu kamen im Sommer 2022 noch die Enthüllungen um den Ex-Abgeordneten Hans-Jörg Jenewein. Die wegen der BVT-Affäre ermittelnde Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft fand auf Jeneweins Handy den Entwurf einer anonymen Anzeige gegen wesentliche Kader der Wiener FPÖ. Da Jenewein zum sehr kleinen Kreis von Menschen zählte, denen Kickl vertraut, löste die Causa zwischenzeitlich größere Irritationen in der Partei aus. Kickl beteuerte intern, nichts von Jeneweins mutmaßlichen Aktivitäten gewusst zu haben – offenbar konnte er überzeugen.

Kurze Zeit später, im September 2022, bestätigte der Parteitag Kickl mit 91 Prozent für drei Jahre als Parteichef. Daraufhin rief er der Menge zu: "Jetzt geht es los in Richtung Bundeskanzleramt!" Der Spruch dürfte damals von den wenigsten wortwörtlich genommen worden sein. Kickl hatte sich stets in der zweiten Reihe wohlgefühlt, mit der Pose des Volkstribuns fremdelte er lange Zeit merklich.

Die Wahrnehmung von Kickl hat sich verändert, als er seine Ambitionen zeigte. In seiner Partei wird vermutet, dass dessen Auftritte vor Corona-Leugnern und Maßnahmen-Gegnern dabei eine Rolle spielten: "Wenn Sie auf der Bühne stehen und Tausende jubeln einem zu, dann verändert das etwas in Ihnen", meint ein Blauer zum STANDARD. Und Parteiveteran Andreas Mölzer sagt: "Nach Ibiza sah die Zukunft der FPÖ finster aus." Kickl habe es geschafft, eine "totgesagte Partei zu reanimieren und Eintracht herzustellen".

In den vergangenen Monaten nahm Kickl jedenfalls immer öfter das Wort "Kanzler" in den Mund. Mehrfach war zu hören, dass er "ein freiheitlicher Volkskanzler" werden möchte. Heute zweifelt in der Partei kaum jemand mehr daran, dass es ihm damit auch ernst ist. Dass sich einst Adolf Hitler mit der Bezeichnung "Volkskanzler" von der nationalsozialistischen Propaganda verherrlichen ließ, stört bei den Freiheitlichen niemanden.

Geht es nach Kickl, soll nach der nächsten Nationalratswahl jedenfalls kein Weg mehr an der FPÖ vorbeiführen. Das könnte ihm tatsächlich gelingen. Nach der Hochphase unter Jörg Haider und der Ära Strache befinden sich die Freiheitlichen zum nunmehr dritten Mal in ihrer Geschichte auf einem Höhenflug. In bundesweiten Umfragen rangiert die FPÖ mit mittlerweile 30 Prozent seit langem in der Poleposition. Kickls Ziel: Nach der Nationalratswahl soll sich eine Zweierkoalition ohne die FPÖ nicht mehr ausgehen.

Keine "Palastrevolte" geplant

Aus der FPÖ ist allerorts zu hören: Eine Regierungsbeteiligung der FPÖ gibt es nur mit Herbert Kickl. Mittlerweile ist er als Parteichef und Spitzenkandidat unumstritten. Kickl ist gelungen, was ihm lange kaum jemand zugetraut hatte. Viele dachten, mit ihm sei nicht viel zu gewinnen. Er hat seine Kritikerinnen und Kritiker eines Besseren belehrt.

Doch Kickl hat auch weiterhin Gegenspieler in seiner Partei – das ist ihm durchaus bewusst. Eine allzu große Gefahr stellen diese für ihn im Moment allerdings nicht dar. "Bei fast 30 Prozent in Umfragen hat niemand Interesse an einer Palastrevolte – auch wir nicht", heißt es vonseiten eines Kickl-Kritikers. Kritisch sehen manche in der Partei, dass der FPÖ-Obmann mittlerweile auch zunehmend jenen Führerkult betreibt, von dem die Partei immer gelebt hatte. Ein Indiz sehen manche etwa darin, dass Kickl zuletzt mehrfach davon sprach, dass es nur eine FPÖ gebe, und das sei "die Kickl-FPÖ". Nach und nach werde die Partei auf ihn zugeschnitten.

Tatsächlich ist momentan aus allen wesentlichen Landesparteien aber zu hören, dass die Atmosphäre intern konfliktfrei sei. Das liege auch daran, dass jene Themen, die polarisiert und teils auch für unterschiedliche Herangehensweisen gesorgt hatten, mittlerweile vom Tisch sind – Corona interessiert niemanden mehr. Und bei den Themen, die derzeit die politische Debatte beherrschen – Ukrainekrieg, Neutralität und Teuerung – gebe es "keine zwei Lager in der Partei", heißt es.

Machtübernahme wird vorbereitet

Dass Kickl einen anderen Blauen ins Kanzleramt ziehen lassen würde, um einen Koalitionspartner zu finden, hält bei den Freiheitlichen kaum jemand für denkbar, um nicht zu sagen: für ausgeschlossen. Blaue Stimmen, die das fordern, finden sich dieser Tage keine. "Es ist vollkommen klar, dass Herbert Kickl als Nummer eins in die Wahl gehen und bei einem entsprechenden Ergebnis auf das Kanzleramt Anrecht hat, sagt ein führender Freiheitlicher zum STANDARD. Und man gibt sich kämpferisch: "Wir lassen uns bestimmt nicht von anderen Parteien diktieren, wen wir ins Kanzleramt schicken."

Überhaupt seien in den vergangenen Wochen letzte Zweifel verflogen, dass sich nach den Wahlen kein Koalitionspartner finden ließe. Zum einen gilt eine Koalition mit der FPÖ hierzulande schon lange nicht mehr als Tabubruch. Zum anderen, weil insbesondere die ÖVP zuletzt die Tür zur FPÖ öffnete. So schloss etwa Klubobmann August Wöginger eine Koalition mit den Freiheitlichen nicht mehr aus. Die blaue Tür regelrecht eingetreten hat man schließlich in Niederösterreich, dem Kernland der ÖVP, wo die Volkspartei vor wenigen Wochen sogar einen Koalitionspakt mit den Freiheitlichen geschlossen hat. Für Kickl ist der Pakt ein Riesenerfolg. Die Kanzlerschaft ist damit wieder ein Stück nähergerückt – näher als je zuvor. "Wenn wir annähernd so stark abschneiden bei der Wahl wie bei den Umfragen, dann wird die ÖVP bei uns sicher anklopfen", sagt der Nationalratsabgeordnete Hannes Amesbauer zum STANDARD. Andere Blaue sind vorsichtiger: Denn noch im vergangenen Sommer kratzte die SPÖ in Umfragen ebenfalls an der 30-Prozent-Marke.

Kickl will die Zeit bis zur Wahl nutzen, um die Partei darauf zu trimmen, erneut an den Schalthebeln der Macht Platz zu nehmen. Wie dem STANDARD mehrere Quellen bestätigten, beauftragte die Partei bereits mindestens eine Person mit Erfahrung in Politik und Management, die Regierungsübernahme vorzubereiten. Vorbereitungen auf eine Wahl dürften intern bereits im Gange sein, im Juni soll außerdem eine Kampagne präsentiert werden. "Wir sind immer auf Wahlen vorbereitet, sonst würden wir sie nicht fordern", sagt Generalsekretär Michael Schnedlitz im STANDARD-Gespräch. Er hält Neuwahlen für "wünschenswert, nicht aus parteipolitischen, sondern aus staatspolitischen Überlegungen".

Im Wiener Café hat der Blaue seinen Toast gegessen, der Kellner bringt noch einen Spritzer. Die Personaldecke sei dünn, sagt er, das merke man in Niederösterreich. Und wie wäre das im Bund als Teil einer Regierung? Das müsse der Parteichef beantworten. Eine Anfrage des STANDARD blieb unbeantwortet. (Oliver Das Gupta, Sandra Schieder, 23.4.2023)